Es gibt Dinge, die verschwinden nie wirklich. Man glaubt sie vergessen und plötzlich feiern sie ein fulminantes Comeback. Genau das passiert gerade mit der Tapete. Was einst die Wände von Schlössern, Salons und später Wohnungen zierte, wurde für Jahrzehnte durch puristische weiße Wände verdrängt. Nun kehrt der lange verpönte Wandschmuck selbstbewusst zurück ins Rampenlicht. Tapeten sind nicht nur en vogue – sie sind lauter, mutiger und kunstvoller als je zuvor. Willkommen zu einer kleinen Kulturgeschichte des wiederentdeckten Wandschmucks.
Unter der Sonne Nordafrikas und in den Werkstätten Asiens begann im 11. Jahrhundert n. Chr. die Geschichte der Tapete: In Ägypten wurden Papyrusrollen mit Mustern bemalt als Wanddekoration genutzt, in China tuschten Pinsel filigrane Muster auf Seide, die dann die Wände zierte. Dieser Luxus war allerdings den Herrschenden vorbehalten – und ein Privileg des Orients. Vielleicht waren es reisende Händler, die diese Ideen der Wanddekorationen ins mittelalterliche Europa brachten und die Fantasie der Adligen anregten.
In Europa wurden Wände zunächst mit schweren Tapisserien behängt – einerseits zur Zierde, andererseits, um kalte Zugluft fernzuhalten. Doch die Herstellung war mühsam, teuer und nur für die Elite zugänglich. Erst im 16. Jahrhundert begann die Geschichte der Tapete, wie wir sie kennen: inspiriert von jenen oben beschriebenen chinesischen Papierarbeiten, fanden handgemalte Papierrollen ihren Weg nach Europa. Hier traten sie bald in Konkurrenz zu Lederwänden und aufwändigen Fresken – mit einem klaren Vorteil: Sie waren variabel und ersetzten auf einfache Weise den Pinsel des Künstlers. Einfache Haushalte konnten sich kleine Stücke leisten, während die Oberschicht prunkvolle Muster importieren ließ.
Im 18. Jahrhundert begann der wahre Siegeszug der Tapete. Mit der Einführung des Stoffdruckverfahrens war es erstmals möglich, Muster in Serie herzustellen. Die Adligen schmückten ihre Gemächer mit barocken Motiven. Üppige Blumenranken, goldene Ornamente und pastorale Szenen dokumentierten Reichtum und erlesenen Geschmack. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts brachte mit der Erfindung der ersten Langsieb-Papiermaschine 1799 Tapeten endgültig in die Haushalte der Mittelschicht. Massenproduktion machte sie erschwinglich, und die Stile diversifizierten sich. Das viktorianische England etwa liebte überladene Blumenmuster, während die Arts-and-Crafts-Bewegung mit Künstlern wie William Morris die Tapete zur Kunstform erhob.
Doch wie jeder Trend musste auch die Tapete ihrem Glanz Tribut zollen. Nach den opulenten Mustern der Jahrhundertwende sehnte man sich im 20. Jahrhundert nach Klarheit. Moderne Architektur brachte glatte, weiße Wände hervor, die für Funktionalität und Reinheit standen. Die Tapete schrumpfte zu einem Relikt, das nur noch in Retro-Küchen oder den Wohnzimmern der Großeltern zu finden war. Die 1970er Jahre sorgten für ein kurzes Revival. Schrille geometrische Muster in Orange und Braun trotzen dem Trend zur Schlichtheit. Doch spätestens in den 1990ern war die Tapete als altmodisch abgestempelt. Weiß gab den Ton an.
Heute ist die Tapete wieder da, mit einem Paukenschlag. Warum? Weil jeder Trend irgendwann einmal endet. Der Zukunftsforscher Matthias Horx beschreibt das Phänomen als Trend-Gegentrend-Theorem, wonach größere Trends immer einen Gegentrend erzeugen. „Zukunft (…) entsteht immer aus der Dialektik widerstreitender Kräfte des „Neuen“ und des „revitalisierten Alten“. Denn keine Entwicklung kann immer nur „linear“ mehr werden.“* Mit anderen Worten: Fortschritt entsteht durch Rückbesinnung. So hat uns die Sehnsucht nach Individualität, nach Charakter und Ausdruck zurück zur Tapete geführt. Die Tapeten von heute sind Statement-Pieces. Sie erzählen Geschichten, setzen Akzente und bringen Kunst in unser Zuhause.
Die Tapete holt die Vergangenheit in die Gegenwart – auf neue Weise. Vintage-Muster aus den 60ern und 70ern werden modern interpretiert, während florale Designs und geometrische Formen eine Brücke zwischen Tradition und Avantgarde schlagen. Immer mehr Tapetenhersteller setzen zudem auf umweltfreundliche Materialien. Graspapier, recycelte Fasern und pflanzliche Farben sprechen eine Generation an, die bewusst lebt und kauft. Gleichzeitig erleben lokale Manufakturen ein Revival – das Handwerk wird wieder geschätzt. Hinzu kommt: Dank digitaler Druckverfahren sind die Möglichkeiten grenzenlos. Maßgeschneiderte Designs, brillante Farben und sogar 3D-Effekte verleihen der Tapete eine nie dagewesene Vielseitigkeit. Ob Stadtpanorama oder abstrakte Kunst – alles ist machbar.
Heute ist die Tapete mehr als nur Dekoration – sie ist Kunst. Viele renommierte Künstler arbeiten mit Tapetenproduzenten zusammen, um Wände in Leinwände zu verwandeln. Ob in hippen Restaurants oder bei Filmproduktionen – Tapeten werden inszeniert wie Gemälde. Die Renaissance der Tapete ist eine kulturelle Bewegung. Sie verbindet Nostalgie mit Moderne, Ästhetik mit Nachhaltigkeit und Individualität mit Handwerkskunst. Ob luxuriös oder minimalistisch, verspielt oder streng – Tapeten spiegeln unsere Sehnsüchte, Geschichten und unseren Stil wider. Und wir sind gerade dabei, das nächste Kapitel ihrer Geschichte zu schreiben.
* Matthias Horx: Wichtige Zukunfts-Theoreme integrierter Prognostik